Seit einigen Jahren stellen immer mehr medizinische Studien die Wichtigkeit der Darmflora für unsere Gesundheit heraus. Die Darmflora, oder moderner: das Mikrobiom, scheint direkt oder indirekt sehr viele Aspekte unserer Gesundheit zu beeinflussen, vom Schalten und Walten des vegetativen Nervensystems über unsere mentale Frische und das Wohlbefinden hin bis zu handfesten organischen Faktoren: Stoffwechsel, Cholesterin, Hungergefühl, ja sogar die Gesundheit von Herz und Kreislauf.
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite fällt mehr und mehr gesundheitsbewussten Menschen auf, dass rezeptpflichtige Medikamente sie „noch kränker zu machen scheinen, als sie sowieso schon waren“. Ein Symptom wird beseitigt (oder gelindert), aber auf der anderen Seite berichten viele Personen, die rezeptpflichtige Medikamente einnehmen, dass sie „nicht mehr sie selbst seien“.
Aktuelle Studie vom EMBL in Heidelberg zum Thema „Medikamente und Darmflora“
Die Universitätsstadt Heidelberg ist eine der Städte in Deutschland, die sich durch Forschung zum Thema Darm hervortut. Eine aktuelle Studie untersuchte den Einfluss von etwa 1200 verschiedenen Medikamenten auf 40 repräsentative Bakterien der menschlichen Darmflora, die so genannten Leitkeime. Das Ergebnis: Mehr als ein Viertel der und versuchten Wirkstoffe interagiert in irgendeiner Weise mit mindestens einem der Bakterienstämme. Fast in jedem Fall läuft es darauf hinaus, dass die Bakterien in irgendeiner Weise gehemmt werden: entweder in Ihrem Wachstum oder in ihrer Stoffwechselaktivität.
Können Nicht-Antibiotika Antibiotikaresistenzen auslösen?
Im EMBL hatte man sich anhand der Testergebnisse unter anderem die Frage gestellt, inwieweit nicht-Antibiotika Resistenzen gegen Antibiotika auslösen können. Da viele verschiedene Arzneimittel direkt oder indirekt auf die Aktivität der Darmflora einwirken, gibt es mögliche Risikofaktoren für die Ausbildung einer Antibiotika-Resistenz, auch wenn die betroffene Person keine Antibiotika eingenommen hat.
Die Leiter der Studie betonen allerdings, dass auch ein umgekehrtes Phänomen möglich ist. Dadurch wäre es zumindest in der Theorie möglich, antibiotikaresistente Erreger durch eine Kombination von Antibiotika und anderen Arzneimitteln doch noch auszumerzen. Die Idee für diese Art von personalisierter Medizin ist geboren, aber noch Zukunftsmusik.
Medikamente und das weit verbreitete Problem Reizdarm
In meinen eigenen Studien habe ich herausgefunden, welche Medikamente bzw. Gruppen von Medikamenten potentiell ein Reizdarmsyndrom auslösen oder verstärken können. Hier eine kleine Liste:
- Antibiotika
- Alle Medikamente, die Zuckeralkohole wie zum Beispiel Sorbit enthalten, auch als Hilfsstoffe
- Antidepressiva
- Sonstige Psychopharmaka
- Ritalin
- Nicht-steroidale Schmerzmittel, Antirheumatika und COX2-Hemmer
- Orale Kontrazeptiva
- Präparate auf Kortison-Basis
- Hormonpräparate allgemein, z.B. der Schilddrüse
- Beruhigungs- und Schlafmittel (!)
- Magensafthemmende Medikamente, PPI (Protonenpumpeninhibitoren)
- Zytostatika / „Chemotherapie“
- Herz-Kreislauf-Medikamente
- Statine / Cholesterinsenker
- Medikamente, die das Immunsystem modulieren, wie Antihistaminika oder Immunsuppressiva
Ich bin mir eigentlich sicher, diese Liste ist bei weitem nicht vollständig. Sie ist deswegen bemerkenswert, weil es sich um weit verbreitete Arzneimittel, die bei sehr vielen Menschen eingesetzt werden, handelt.
Wie ein Antihistaminikum Reizdarm verstärken kann
Bei meinen Recherchen für einen Reizdarm-Ratgeber bin ich über einen Artikel in einem englischsprachigen Reizdarm-Forum geschlossen, indem über eine sehr negative Erfahrung mit Antihistaminika berichtet wird. Wie ich in meinem Reizdarm-Buch herausgestellt habe, kann ähnlichen Symptomen von Reizdarm durchaus eine sehr unterschiedliche immunologische Ausgangslage zugrundeliegen.
Ein bisschen anders formuliert: zwei Patienten mit Reizdarm haben quasi die gleichen (oder zumindest ähnliche) Symptome, die Ursache ist jedoch in beiden Fällen vollkommen unterschiedlich. In dem genannten englischsprachigen Forum ist zum Beispiel die Rede davon, dass es sehr unüblich für Antihistaminika ist, Durchfall auszulösen.
Auf den zweiten Blick ist die Sache komplizierter, als es den Anschein hat
Nicht die Krankheit, mit der eine Person belastet ist, sondern die Ausgangslage von Stoffwechsel und Immunsystem bestimmt, wie ein Patient auf ein bestimmtes Medikament reagiert. Dieser Ausgangslage von Stoffwechsel und Immunsystem wird teilweise von der Zusammensetzung der Darmflora, teilweise von der medizinischen Vorbelastungen und teilweise von der Ernährung bestimmt – und natürlich von ererbten Merkmalen der Eltern.
In der Praxis bedeutet dies, dass zwei Personen mit ähnlichen Symptomen sehr unterschiedlich auf ein- und dasselbe Medikament reagieren, weil die Ausgangslage ihres Stoffwechsels eine andere ist. Kennen Sie den Unterschied zwischen „das gleiche“ und „dasselbe“? Wenn ja, dann verstehen Sie sicherlich, was ich meine.
Bestimmt die Darmflora die Reaktion auch auf Immunsuppressiva?
Auch diese Frage muss erlaubt sein. Ich habe in meiner langjährigen Praxis als Heilpraktiker mehrere 100 Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen behandelt. Sehr viele dieser Patienten waren zeitweise oder permanent auf Immunsuppressiva angewiesen, um Symptome in Schach zu halten. Die Reaktionen waren indes sehr unterschiedlich. Manche Personen sprachen durchaus sehr positiv (vom therapeutischen Effekt) auf Immunsuppressiva an, während andere keine positiven Effekte zeigten oder sogar hauptsächlich unter den Nebenwirkungen zu leiden hatten.
Gleichzeitig ist es so, dass verschiedene Personen mit der „gleichen Krankheit“ (beispielsweise Morbus Crohn) eine durchaus unterschiedliche Zusammensetzung ihrer Darmflora aufwiesen. Bei einigen Patienten war die Gärung verstärkt, andere hatten überdurchschnittlich viele Histaminbildner in ihrer Flora. Von den Symptomen und Befunden her war das medizinische Bild quasi identisch – jedoch zeigte sich die Wirkung auf Immunsuppressiva wie beispielsweise Azathioprin oder auch die neuen Biologika völlig unterschiedlich.
Die Zusammensetzung der Darmflora entscheidet über Reaktionen des Immunsystems
Neuere medizinische Forschungen, hauptsächlich aus den angelsächsischen Ländern sowie aus Österreich und Italien, haben herausgefunden, dass die Zusammensetzung der Darmflora teilweise über die Reaktion des Immunsystems über die „humorale“ oder die „zelluläre“ Abwehr entscheidet. Bestimmte Darmbakterien Regen die humorale Abwehr an, andere wiederum die zelluläre.
Vielleicht sind Sie mit dem Wirkstoff Perenterol (Saccharomyces boulardii), einer medizinischen Hefe zur Bekämpfung von Durchfall vertraut. Ich habe in den Jahren meiner Praxis immer wieder erlebt, dass er vielen Patienten mit Durchfall Linderung bringen kann. Aber eben nicht allen Patienten! Bei Morbus Crohn ist das Arzneimittel häufig hilfreich, sofern es sich nicht um einen „ASCA-positiven“ Morbus Crohn handelt. ASCA bedeutet: „Anti Saccharomyces Cerevisiae Antibody“, zu deutsch: Antikörper gegen die Bierhefe. 80-90 % aller Morbus Crohn-Patienten ohne diesen Antikörper können von einer Einnahme von Saccharomyces boulardii profitieren. Das hat einen simplen Grund: Morbus Crohn wird in dieser Größenordnung hauptsächlich durch eine Reizung des zellulären Immunsystems vermittelt. Wenn die Krankheit daher häufig „Th1-Dominant“. T-Helferzellen vom Typ 1 vermitteln Reaktionen des zellulären Abwehrsystems. Die medizinische Hilfe Saccharomyces boulardii hemmt (unter anderem) einer Überreaktion der zellulären Abwehr.
Tatsächliche Wirkung von Medikamenten auf den Menschen nur schwer zu kalkulieren
Es ist das Dilemma der modernen Medizin, dass sie eben nicht individuell maßgeschneidert werden kann. Das liegt natürlich nicht nur an den Medikamenten selbst, sondern auch am Gesundheitssystem. Da ich es nicht als meine Aufgabe ansehe, über das Gesundheitssystem zu debattieren, beschränke ich mich auf den Menschen.
Mein Tipp: sollten Sie ein Medikament einnehmen und dabei irgendeine Wirkung auf einen Funktionskreis des Körpers feststellen, der nichts mit der Einnahme des Medikaments zu tun hat, ist es wahrscheinlich sehr wahrscheinlich, dass das Arzneimittel in irgendeiner Weise in das Mikrobiom eingreift. Ein Beispiel: Sie nehmen einen Cholesterinsenker ein und leiden unter Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen sowie einem allgemeinen Schwächegefühl. Ist dies der Fall, sollte Sie tatsächlich einmal nach den Darm schauen lassen!
Für ein gutes Bauchgefühl,
Andreas Ulmicher
Quellen:
http://www.ibsgroup.org/forums/topic/152708-beware-of-antihistamines/
https://ibstreatmentcenter.com/2013/01/are-your-medications-causing-your-diarrhea-part-two.html
https://treato.com/Ritalin,IBS/?a=s
https://ibstreatmentcenter.com/tag/side-effects-of-painkillers