Es gibt doch immer wieder interessante Fragen zum Thema „Reizdarm“.
Auch wenn mittlerweile geklärt ist, dass das Reizdarmsyndrom keine rein psychosomatische Erkrankung darstellt, wird den Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper immer noch ein hoher Stellenwert eingeräumt.
Da stellt sich natürlich die Frage: inwieweit können Ruhe, Entspannung und eventuell damit verbundene Techniken und Rituale zur Linderung des Reizdarmsyndroms beitragen?
Das vegetative Nervensystem fließt in die Gleichung ein – aber wie?
Aus langjähriger Erfahrung weiß ich zu berichten, dass es schwierig ist, gerade als Heilpraktiker einem Patienten etwas über das vegetative Nervensystem zu erzählen. Noch schwieriger ist es, einem Arzt etwas darüber zu erzählen. Der wird nämlich milde lächeln und sagen: „jetzt kommt etwas über die Seele!“
Mitnichten!
Das vegetative Nervensystem ist ein Organ, bzw. ein Teil eines Organs. Es ist vollkommen korrekt, dass es auf psychologischen Stress reagiert. Das ist ein Jahrmillionen alter Reflex, der allen Wirbeltieren gemein ist. Das vegetative Nervensystem wird jedoch genauso gut durch organische Einflüsse gesteuert.
Ein kleiner Einschub: die Darmtätigkeit wird zum allergrößten Teil durch den Nervus vagus gesteuert, der seinerseits wiederum Teil des vegetativen Nervensystems ist. Er hat zu einem großen Teil Parasympathikus-, zu einem kleineren Teil Sympathikus-Anteile. Diese Anteile koordiniert reflektorisch die Peristaltik, die Ausschüttung von Enzymen und Hormonen, die Aktivität des lymphatischen Systems, der Verschluss und die Öffnung etwa des Pylorus, den Stuhl-Entleerungsreflex. Mit dem Verdauungsakt werden normalerweise Sympathikus- und Parasympathikus-Anteile im Verhältnis 30 zu 70 aktiviert, um einen harmonischen Ablauf des Ganzen zu gewährleisten.
Problematisch wird es, wenn bei einer Person entweder der Sympathikus oder der Parasympathikus deutlich dominant ist. Dann ist das klassische 30 zu 70 Verhältnis nicht mehr gegeben, und es kommt zu Koordinationsstörungen.
Ist der Sympathikus (chronisch!) bei weitem dominant, passiert folgendes:
- Völlegefühl und Druck im Oberbauch (eventuell Sodbrennen)
- langsame Verdauung, Schweregefühl im Bauch
- stagnierende Blähungen viele Stunden nach einer Mahlzeit
- Verstopfung, unvollständige Stuhlentleerung, fehlender Stuhldrang
Ist der Parasympathikus (chronisch!) bei weitem dominant, geschehen diese Dinge:
- Blähungen bereits 20-30 Minuten nach dem Essen aufgrund der Aktivierung bestimmter Hormone (Cholezystokinin / Motilin)
- kräftige Darmbewegung und Rumoren im Bauch
- Unverträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel, vor allen Dingen dichter Kohlenhydrate und Zucker
- Weicher, breiiger und eventuell flüssiger Stuhlgang (Durchfall)
- Plötzlicher Stuhldrang, unwiderstehlicher Stuhldrang
Interessant ist, dass ein Reizdarmsyndrom Störungen in beide Richtungen aufweisen kann. Die erwähnten Störungen können sogar im Wechsel auftreten, weswegen ich einmal das Reizdarmsyndrom als vegetative Dystonie, die sich am Darm bemerkbar macht bezeichnet habe.
Sympathikus = Stress, Parasympathikus = Ruhe …und ein Problem?
Bevor wir zu der Erkenntnis gelangen, wann und wie Entspannungstechniken, Meditation, Yoga, Autogenes Training etc. das Reizdarmsyndrom lindern können, müssen wir uns zwei Problemen stellen. Das erste Problem hängt mit den beiden Zweigen des vegetativen Nervensystems zusammen: wenn bei einem Reizdarmsyndrom die oben aufgelisteten Symptome der Parasympathikus-Dominanz überwiegen, müssten Entspannungstechniken ja eigentlich schaden – oder?
Ganz so einfach ist es dann auch nicht: die genannten Symptome sind kein Zeichen einer Ruhe, sondern einer vegetativen Erschöpfung. Diese Form der Erschöpfung ist im englischen Sprachraum unter dem Begriff Adrenal fatigue bekannt. Zu einer Erschöpfung egal welcher Art kann es jedoch nur kommen, wenn dieser Phase eine Zeitspanne ausgeprägter Anspannung bzw. eines starken Stresses vorausgegangen ist. Diese Form der Erschöpfung ist also kein natürlicher Zustand.
Dieser Zustand ist nicht so gut durch die erwähnten Entspannungstechniken zu beeinflussen – zumindest nicht kurzfristig. Dennoch sind die Techniken in einem gewissen Sinn hilfreich. Auch wenn Sie nicht sofort die Symptome lindern, können sie doch mittel- bis langfristig zu einer verbesserten Stressresistenz führen. Das hat zwei Vorteile:
- Eine allmähliche Erholung ist möglich
- Die vegetative Dystonie, die Schwankungen des vegetativen Nervensystems nehmen ab
- Für die Zukunft: eine bessere Stressresistenz verringert das Risiko für eine erneute vegetative Erschöpfung
Fassen wir diese drei Punkte zusammen, so wird ein Reizdarmsyndrom mit überwiegenden Parasympathikus-Symptomen nicht schnell auf Entspannungstechniken ansprechen, sondern nur sehr allmählich. Eine Erholung wird aber möglich sein und die Symptome werden sich über Wochen und Monate hin langsam verringern. Eine ideale Ergänzung ist eine Therapie, die die Sympathikus-Anteil organisch stärkt, beispielsweise mit dem Vitamin- und Nährstoff-Vorstufen von Adrenalin, Dopamin oder auch Cortisol (L-Tyrosin, B-Vitamine, L-Taurin, Vitamin C, Magnesium…). Damit können wir gleich überleiten zum nächsten Problem…
Welche organischen Einflüsse wirken auf das vegetative Nervensystem ein?
Jetzt kommen wir leider in ein Gebiet, mit dem sich die Medizin noch wenig auseinandersetzt. Ich nenne dieses Problem „Stoffwechselstress“, man unterscheidet oxidativen und nitrosativen Stress. Auch diese Form von Stress kann zu Reizung, zu vegetative Dystonie und zu Erschöpfung führen und damit Reizdarm-Symptome auslösen. Und jetzt kommt‘s: der Anteil dieser Faktoren am Gesamt-Stress, der auf den Organismus einwirkt, entscheidet auch darüber, wie effektiv Entspannungstechniken beim Reizdarmsyndrom sind. Ich überprüfe diese Faktoren ganz schlicht und einfach daran, wie stark man psychischen Stress in Bezug auf die Wirkung auf den Patienten herausnehmen kann. Dabei erfrage ich in der Anamnese das Verhältnis von Symptomen zu Stress:
- Die Darmsymptome reagieren ausschließlich oder fast ausschließlich auf psychischen Stress, Ernährung und andere Faktoren spielen fast keine oder keine Rolle
- die Darmsymptome werden zu einem gewissen Teil von Ernährung und anderen Faktoren gesteuert, hauptsächlich aber durch psychischen Stress
- psychischer Stress und andere Faktoren halten sich in etwa die Waage in ihrem Einfluss auf das Befinden des Darms
- psychischer Stress spielt eine kleine Rolle, hauptsächlich wird das Befinden des Darms aber durch Nahrungsmittel und andere Faktoren gesteuert
- das Befinden des Darms wird ausschließlich durch Nahrungsmittel und körperliche Faktoren gesteuert, hingegen überhaupt nicht durch psychischen Stress
Sie als gesundheitsbewusster Mensch können sich sicherlich denken, worauf es hinausläuft: je weiter hinten Sie sich anhand dieser fünf Fragen einordnen können, umso weniger offensichtlich ist die Wirkung von Entspannungstechniken und –Ritualen auf Ihren Darm.
Dennoch: Ich empfehle Ihnen auf jeden Fall eine Form der Entspannung!
Davon unabhängig jedoch empfehle ich jedem Patienten eine Form der Entspannung. Mit einem Auge auf die langfristige Verbesserung der Stressresistenz schielend, werden die vegetativen Schwankungen bzw. die vegetative Dystonie langfristig geringer, was sich natürlich auch positiv auf die organischen Parameter funktioneller Erkrankungen im allgemeinen sowie des Reizdarmsyndroms im speziellen auswirkt!
Für ein gutes Bauchgefühl,
Andreas Ulmicher
Quellen:
Andreas Ulmicher: „Der Darmversteher“, VAK Verlag 2016
Andreas Ulmicher: „Andreas Ulmichers Reizdarm-Ratgeber“, Books on Demand, 2017
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1976131714000450
https://reizdarm.one/reizdarm/stress-beim-reizdarmsyndrom/